FRANKFURTER ALLGEMEINE
Die Geschichte von Santo Stefano di Sessanio liest sich wie die von einem italienischen Aschenputtel, das von einem blonden Prinzen wach geküßt wurde: Ein Italoschwede
macht das verfallene Dorf in den Abruzzen zum Edelhotel.
Als in Italien zu Beginn dieses Millenniums noch gerechnet wurde, wieviel Geld der Finanzminister mit dem Verkauf oder der Vermietung staatlicher Kulturgüter einnehmen
könne, wurden auch die „borghi medievali“ gezählt. Man kam auf etwa siebentausendfünfhundert der mittelalterlichen Örtchen. Keines wurde seitdem so konsequent mit dem Ziel wirtschaftlicher
Erträge saniert wie Santo Stefano di Sessanio in den Abruzzen.
Der Ort liegt ziemlich abseits mitten im nördlichen Süditalien nahe Aquila, hat aber mit den damaligen kulturkommerziellen Blütenträumen der italienischen Regierung
überhaupt nichts zu tun. Jede Renovierung, jede Sanierung der Bausubstanz und jede Verschönerung der Fassaden geht allein auf eine private Initiative zurück. Ihre Geschichte liest sich wie die
von einem italienischen Aschenputtel, das eines Tages von einem blonden Prinzen wach und obendrein schön geküßt wurde.
Zuletzt wohnten noch siebzig Menschen hier.
Die Rede ist von dem Italoschweden Daniel Elow Kihlgren. Er hatte sich auf dem Motorrad bis tief in die Abruzzen treiben lassen und stand plötzlich am Fuße dieses
halbverfallenen Dorfes, dessen Anblick sofort in ihm einen Plan entstehen ließ: Kihlgren wollte hier eine umfassende Rekonstruktion in Gang setzen, wie es sie selbst in Italien bislang noch nicht
gegeben hatte. Privates Geld war vorhanden und ein autobiographischer Bezug auch. Denn der Enthusiast war zwar blond und in Schweden aufgewachsen, aber seine Mutter war aus Italien in den Norden
gekommen.
Die Häuser in dem kleinen Ort kosteten nicht viel und schienen schon alleine vom Anschauen einstürzen zu können. Menschen lebten hier kaum noch, denn seit Mitte der
fünfziger Jahre war Santo Stefano di Sessanio nach und nach verlassen worden. Die Bewohner suchten Arbeit und ein besseres Leben, meist in Argentinien, und hatten die Schlüssel, für die Zukunft
irgendwann, bei den Zurückgebliebenen gelassen. Doch ihr Interesse daran wurde um so geringer, je mehr Zeit verging. Nach vier Jahrzehnten wohnten von ehemals dreitausend Einwohnern noch siebzig
im Ort.
Heute bedeutet die Zukunft für Santo Stefano di Sessanio, ein Ort zu werden, in dem es mehr Schlafplätze für Touristen als für Einwohner gibt. Ohne daß an einem der
perfekt sanierten Häuser die Aufschriften „Albergo“ oder „Hotel“ leuchten, wird Santo Stefano ein Hotel haben, das überall zu finden ist, ein „Albergo diffuso“, ein verstreutes Hotel, wie es hier
genannt wird.
In fast allen der sanierten Gebäude hat es Zimmer parat - jedes ist anders, aber allen ist eines gemein: Sie sind auf geradezu pingelige Art rekonstruiert worden. Wenn
das Baumaterial nicht das alte sein konnte, mußte es zumindest entsprechend den alten Traditionen entstanden sein. Dieses Primat der Tradition gilt vom Großen bis ins Kleine: Wer hier schläft,
ruht auf feinsten Wollmatratzen, zugedeckt mit Leinen- und Wolldecken, wie sie hier vor hundert Jahren noch zum armen Alltag gehörten, aus dem die Einwohner verzweifelt emigrieren wollten. Sogar
die Farbe mancher Tischdecken wurde nach uralten Rezepten mühselig angerührt.
Vor fünf Jahren begann Kihlgren sein Projekt, das mittlerweile Investitionen von mehr als vier Millionen Euro verschlungen hat. Während
Kihlgrens Finanz- und Tatkraft an die Grundregeln, aber auch Ideal des klassischen Kapitalismus erinnern, sind seine Vorstellungen vom Tourismus eher philosophisch humanistisch geprägt: Die
herkömmliche Standardsanierung italienischer „borghi“ bedeutet in seinen Augen immer den Tod des genius loci. Aber auch nicht die Veredelung oder die „Vermittelalterlichung“ der bestehenden
Strukturen sind sein Ziel. Sie wären ihm eine „Ideologisierung des Ortes“, die Korrumpierung im Sinne des verheerenden Massentourismus und der marktführenden nivellierenden Tourismuskonzerne
bedeute. Für Kihlgren sind dagegen, als sei er mehr Denkmalschützer denn Unternehmer, die sichtbaren Spuren des Lebens das Merkmal einer gelungenen Sanierung. Und diese Spuren sind in einem
verlassenen Ort in Süditalien vor allem Spuren der Armut.
In einem der schönsten Zimmer von Santo Stefano di Sessanio übernachtet man in einem ehemaligen - Kuhstall. An der Wand hängen noch die Ringe,
an denen das Vieh mit Ketten festgehalten wurde, und das Badezimmer war das Futterlager, dessen grobe Wände nur partiell von dezent cremefarbigen Kacheln bedeckt sind. „Überall wird mittlerweile
der Ideal-Kachel-Standard in Rosa oder Blau verwendet. Die Menschen haben offenbar diese Sehnsucht nach dem Gleichförmigen“, begründet Kihlgren sein Vorgehen als Gegenstrategie. Der alte
Holztisch, den er aufstellen ließ, sei „in seiner rohen Art ein Zeichen der Armut. Solche Möbel sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder an römische Antiquare verkauft und zu Hause dann
etwa von Ikea-Produkten ersetzt worden. Die Gleichförmigkeit wird als Zeichen des Wohlstands verstanden und als Zeichen, die Natur zu beherrschen, welche wiederum eine der Ursachen der Armut
ist.“
Wunschtraum aller Denkmalschützer
Authentizität steht in diesem Projekt vor dem allgegenwärtigen Verwertungsbegriff der Markenware: „Fiat und Ferrari sind imitierbar und können
eines Tages auch in China produziert werden, dieser Ort kann es nicht.“ So füllt denn Privatinitiative die modischen europäischen Hohlformeln von Qualität, Einzigartigkeit und Nachhaltigkeit mit
Leben; ein Wunschtraum aller Denkmalschützer Europas und vor allem Deutschlands, wo vergleichbar pittoreske Orte kurz davorstehen, zu jener Gespensterstadt zu werden, die Santo Stefano di
Sessanio vor einigen Jahren noch war.
Obwohl im gesamten Nationalpark der Abruzzen nur mit ähnlichen Vorgaben gebaut werden darf wie jene, die sich Kihlgren selbst auferlegt hat,
ist es in direkter Nähe zum Ort weder ausgeschlossen noch baurechtlich untersagt, beispielsweise am Fuße der mittelalterlichen Siedlung Reihenhäuser aufzustellen. Noch scheint dies nicht
besonders sinnvoll, denn das Städtchen liegt zwar herrlich, aber eben auch abseits. Doch die Ausweitung der nahen „strada statale 17“ auf vier Spuren hat schon begonnen.